ANDREJ CHLOBYSTIN / Whipping on the Cart

Den Karren antreiben
Zum Projekt "Tatschanka"

Man kann die Maschine als den Weg auffassen,
auf dem der Geist sich von der Stofflichkeit befreit.
Nikolai Berdjajev

Die leichten Kanonen, die Jemeljan Pugatschow - der Anführer des Bauernaufstandes im Ural (1773-75) - auf Schneeschlitten anbrachte, waren nach Apollons Streitwagen der erste mir bekannte Fall einer "Kreuzung" von Pferdegespann und Schusswaffen zum Zweck aktiver, beweglicher Kampfhandlungen. Dies führt uns direkt zum Thema einer anarchistischen oder partisanentypischen Technik (im weitesten Sinn des Wortes) und der entsprechenden Strategien, vor allem im Bereich der Kunst. Unter den Bedingungen des russischen Bürgerkriegs (1918-1921) wurde die "Tatschanka" (ein Wagen mit darauf befestigtem Maschinengewehr) zum schlagkräftigsten Gefechtsmodul, und obwohl sie später als Symbol der Roten Armee in die sowjetische Mythologie eingegangen ist, wurde sie vorwiegend von der anarchistischen Armee um Nestor Machno (1889-1934) eingesetzt. Machno, ein Feind des Eigentums und der Städte, wollte etwas in der Art der freien Saporoger Kosakengemeinschaft schaffen. In seinem Heimatdorf mit dem bezeichnenden Namen Guljai Pole ("Vergnüg-Dich-Feld"), seiner späteren Hauptstadt, baute der 28-jährige Machno 1918 die erste anarchistische Partisaneneinheit auf. Bis 1921 kämpfte er auf einem gewaltigen, zwischen Dnjestr und Don gelegenen Wald- und Steppengebiet etwa von der Grösse Frankreichs gegen Deutsche, Österreicher und Ungarn, Weissgardisten, Rote Armee und Petljura-Anhänger (ukrainische Nationalisten). Seine Armee, bestehend aus Kavallerie-Eliteeinheiten und Infanterie, die auf Tatschankas sass (deren Zahl betrug zeitweise bis zu 800), unternahm oft blitzartige Vorstösse von bis zu 100 Kilometern an einem einzigen Tag. Ebenso augenblicklich verschwand die Armee auch wieder: der Bauer versteckte das zerlegbare Maschinengewehr vom Typ Maxim irgendwo im Keller, und der Karren oder die Kutsche wurden wieder ihren alltäglichen Funktionen zugeführt. Neben den frommen Bauern, die Machno rückhaltlos unterstützten, stand der aus "deklassierten Elementen" zusammengesetzte permanente Grundstock der anarchistischen Armee: Abenteurer, Matrosen, Kriminelle, ideologische Anarchisten, die keinerlei Disziplin und militärische Hierarchien anerkannten. Diese Anarchisten waren ständig betrunken und von Grund auf unberechenbar, sie trugen die unwahrscheinlichsten verrückten Gewänder, Kombinationen aus Damenstrümpfen, knielangen Schlüpfern und Büstenhaltern mit gestreiften Seemannshemden, Matrosenmützen, über Kreuz umgeschnallten Patronengurten, langen, zu "Pariser" Frisuren arrangierten Haaren, einer Unzahl von Parasiten usw... Auf den mit wertvollen Teppichen ausgelegten Tatschankas war Platz für ein bis zwei Maschinengewehre, Fässer mit Wein und selbst gebranntem Schnaps, Beutegut, drei bis fünf Kämpfer und sogar für Musik (Grammofone). Die endlosen Trinkgelage der Anarchisten, in die sie ihre gesamte Umgebung hineinzuziehen versuchten, versetzten sie in einen Zustand der Trance und glichen archaischen Ritualen oder modernen Raves, was der Rhythmus des pausenlos in die Runde feuernden Maschinengewehrs noch unterstrich. Parallel zum Auftauchen der Kriegs"maschine" entstanden auch in der Sphäre der zeitgenössischen Kunst Verhaltensmuster und Konstruktionen "à la Tatschanka": hierher gehören die russischen Futuristen, Dada, dann auch die Oberiuten, die Surrealisten und so weiter. Wenn man will, kann man so leicht einen weiteren Mainstream im 20. Jahrhundert konstruieren (vom archaischen karnevalesken "Widerstand" bei Bachtin über Art Brut bis zum absurden Happening, Punk und Rave). Im Mittelpunkt steht dabei Kreativität als Zustand, im Gegensatz zur Kunst als Technik. Hervorzuheben ist die Aktualität dieses archaischen Typs von Kreativität, bei dem das Hauptziel verschiedener Praktiken und Rituale im Erreichen eines höheren schöpferischen (magischen) Zustands lag. So wurde der Ikonenmaler etwa durch Gebete, Fasten, Nachtwachen etc. zum Werkzeug in der Hand Gottes, das Sein Wesen und Seine Energie ubertrug.

Gleichwohl kann man feststellen, dass die Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts weder den formalen Weg noch den manischen Weg des Schamanen Beuys eingeschlagen hat, sondern vielmehr den des Simulationismus - den Weg des Niedergangs des eigentlich Künstlerischen und Erhabenen. Wenn ich deshalb in der äusseren Rolle des zeitgenössischen Künstlers auftrete (und das ist die einzige Möglichkeit, ein Landsknecht, ein Nomade, ein rabelaisianischer Panurg zu sein), so ist die anarchistische Tatschanka dabei für mich heute nicht als Symbol für Kombinatorik und Manipulation - das mittlerweile allgemein verbreitete "offizielle" Modell der Kunst - von Bedeutung, sondern als Bild einer generativen Kreativität, das heisst einer sparsamen, wirkungsvollen und artistischen, nicht einer rituellen Verausgabung von Energie.

Beschreiben wir nun, wie die Tatschanka "funktioniert". Sie ist ein RAD, eine pulsierende, sich ein- und wieder aufdrehende, aggressive, beliebig die Gestalt wechselnde Chimäre. Zusammengesetzt aus vielerlei Materialien und Bestandteilen, illustriert sie gewissermassen die Ideen der russischen Philosophie der Jahrhundertwende von der Einheit von Leben und Tod, Mechanismus und Organismus, Traum und Wachzustand, Vergangenheit und Zukunft. Tiere + Menschen + Technik + musikalisch-tänzerisch-gesangliche Untermalung bilden zusammen ein in sich geschlossenes, aktives Milieu - ein Haus auf Rädern, eine Zirkusbude, ein Gefechtsfahrzeug voll Kühnheit und Pathos. Kurz, die Tatschanka ist die organische Maschine in Aktion und Interaktion mit dem Umfeld. Das einzige Element, das ihr fehlt, ist die sakrale Funktion, die der Streitwagen besass; der Tatschanka wurde diese Funktion erst nach dem Krieg zugeschrieben. Ein zauberhaftes Modell, allerdings nicht nach jedermanns Geschmack. Der Anarchismus ist heute zu einer Spielart des Infantilismus geworden, und Infantilismus und Kinder sind mir sympathisch. Schliesslich ist auch die repräsentative Aktionskunst infantil: man steht unter Beobachtung (unter Aufsicht) - ein massenmedialer, filmisch-theatralischer Effekt, wogegen der reale schöpferische Prozess sich in der Einsamkeit und Zurückgezogenheit vollzieht. Die Tatschanka (Touch-anka) berührt uns. Einem Kutscher sagt man "trogaj!", das heisst "rühr an!" oder "fahr zu!") und er beginnt, sein Pferd zu "berühren", das heisst, es mit der Peitsche zu schlagen (ein Moment von s/m), und das Herz des Fahrgasts mit einem Lied oder einer Geschichte "anzurühren". Darüber hinaus gibt es in der russischen Gegenwartssprache den Ausdruck "den Karren antreiben", was soviel bedeutet wie "aggressiv die Aufmerksamkeit der Zuhörer an sich reissen" oder "manisch Unsinn reden".

Meine Ausstellung sieht folgendermassen aus: Vor dem Hintergrund einer grossen, als Kulisse fungierenden Videoprojektion, einer Montage von Filmszenen mit Streitwagen, Tatschankas und anarchistischer Gesetzlosigkeit, ist eine Art Kinderspielplatz ("Guljai Pole") aufgebaut. Dazu gehören fest installierte Second-hand-Kinderwagen mit Spielzeugwaffen und die hinzugebetenen Kinderwagen-Tatschankas der Besucher mit Kindern. Die Kinder können sich in an der Decke aufgehängte Hupfschaukeln setzen, herumlaufen, mit dem auf dem Boden verstreuten Spielzeug spielen, Lärm machen, essen. Das Ganze wird begleitet von ukrainischer "Gopak-TanzmusiK" - einem frühen Vorläufer des Break-Dance - und "Banditenliedern". Die Energie selbst einer kleinen Anzahl von Kindern reicht gewöhnlich aus, um auch die wohlanständigste Erwachsenenveranstaltung zu sprengen.

Andrej Chlobystin

Mein nomadisches Projekt "Tatschanka", das ich im Jahr 2000 in Polen, Lettland, Schweden, St. Petersburg, Berlin und in Frankreich als ein groses Kinderfest begonnen habe, möchte ich, wo immer es möglich ist, fortsetzen. Es war ein grosser Erfolg und nahm in jedem Land eine andere Form und einen anderen Charakter an und bot Überraschungen bei der Erforschung des Einflusses der reinen Energie der Kinder auf den Raum der zeitgenössischen Kunst. Meine derzeitige persönliche Situation ist das Resultat einer Lebensphilosophie, die meine erste Frau Alla Mitrofanowa (eine Medientheoretikerin) und ich zu Beginn der neunziger Jahre auch nomadisch genannt haben. Eines der wesentlichen Ergebnisse ist mein ununterbrochenes Reisen im Zusammenhang mit Ausstellungen (ich bin dessen müde, aber ich kann nicht damit aufhören: Im letzten Monat habe ich innerhalb von St. Petersburg dreimal die Wohnung gewechselt und die Grenzen zwischen sieben Staaten überquert) sowie familiäres Durcheinander (ich habe zwei Familien - eine russische, eine französische - drei Söhne, die das Wichtigste für mich sind). Heutzutage sind Kinderfeste für unsere radikal-bohemistisch-intellektuelle Gemeinde in St. Petersburg die beste Art sich zu vergnügen (anstelle von Seminaren, Partys, Orgien, Empfängen usw.). Sie sind eine Prüfung der Ausgeglichenheit eines jeden und des Dynamismus (Nomadismus?) der Eltern. Zurzeit ist für mich das postnomadische Lebensgefühl das Interessanteste.